Der Pimmelkönig

von Christiane Lutz

In der analytischen Psychotherapie nach C.G.Jung kommt dem Umgang mit dem Symbol eine zentrale Rolle zu. Das symbolische Spiel ersetzt nicht selten die konkrete Verbalisierung, eine Möglichkeit des therapeutischen Umgangs, die Vertrauen erleichtert. Auch in den Deutungsangeboten bleiben wir häufig auf der Symbolebene. Dies verringert die Gefahr einer Beschämung, die gerade von älteren Kindern häufig empfunden wird, wenn ihre Abwehrstrategien verbal gedeutet und sie sich damit entlarvt und unter Umständen entwertet fühlen. Kinder haben noch einen unmittelbaren Zugang zur Welt der Symbole und ihrer Bedeutung und können darum mit Hilfe unserer verstehenden Begleitung die Selbstheilungskräfte ihres eigenen Unbewussten aktivieren. Ein 6-jähriger sagte mir einmal "Gelt, wir können zwei Sprachen..."

Ein Symbol, das alle Altersstufen anspricht, hängt in meiner Praxis an einem gut sichtbaren Ort. Es ist eine aus Eichenholz gesägte 90 cm große Figur mit beweglichen Gliedern und einem aus einer Wurzel geformten Penis. Ein Achtjähriger nannte ihn vor Jahren den "Pimmelkönig". Er hat im symbolischen Spiel die Rolle des auf seine Autorität pochenden, gleichzeitig aber auch fernen und unerreichbaren Vaters. In ihm manifestiert sich im kindlichen Erleben gleichzeitig der Archetyp des Väterlich-Männlichen, vor allem in seinen negativen Ausformungen von gnadenloser Überlegenheit, die keinen Konkurrenten neben sich duldet. Die Kehrseite dieser Machtbesessenheit ist eine archaische Angst vor der nachfolgenden Generation der Söhne, denen jede Vaterfigur früher oder später das Feld räumen muss.
Die Kinder, Mädchen wie Jungen, schießen auf diese Figur, die mit ihrem harten Bauch die Pfeile der Armbrust abprallen lässt. Nicht selten zerbrechen die Geschosse auch, was die Dominanz und Selbstgerechtigkeit dieses Wesens in der Wahrnehmung der Kinder noch unterstreicht.
Im Verlauf eines gruppentherapeutischen Prozesses fragte mich ein 9-jähriger, während er auf den "Pimmelkönig" anlegte, was dieser wohl sagen würde. In der Gegenübertragung konnte ich die Mischung von Angst und Wut spüren und versuchte diese Empfindungen als phantasiertes Erleben der Figur in Worte zu fassen: möglicherweise habe er das Bedürfnis, die Kinder sollten klein bleiben und seine Überlegenheit anerkennen. Vielleicht sei er empört, dass die Kinder wagten, ihn anzugreifen, seine Krone herunter zu schießen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Es ergab sich im Anschluss eine emotionsgeladene Auseinandersetzung, in der ich immer mehr in die Rolle des "Pimmelkönigs" geriet, der immer deutlicher seine Angst vor Machtverlust offenbaren musste. Dann folgte ein hochdramatisches Rollenspiel mit wildem Schießen, Beschimpfungen und Triumphgeschrei, die der Holzfigur einerseits, aber genauso mir in der Vaterübertragung galten. Allmählich beruhigte sich die Dramatik angesichts einer allgemeinen Erschöpfung. In der plötzlichen Stille warf ein Mädchen die Frage auf, ob es nicht auch ähnliche Kampfgeschichten gäbe, die ich erzählen könne.
Ich wählte einen Mythos aus der griechischen Antike, um den Kindern die Allgemeingültigkeit ihrer Empfindungen zu verdeutlichen. Es ist das von C.G.Jung eingeführte Mittel der Amplifikation, das an die urmenschlichen Erfahrungen, die im kollektiven Unbewussten gespeichert sind, anknüpft. In Märchen und Mythen findet dieses Wissen einen bildhaften Niederschlag. Hierdurch wird einerseits das allgemein Verbindliche einer Konfliktthematik erhellt, andererseits individuelle Ängste, Schuldgefühle und eine insgesamt belastende Familienproblematik bis zu einem gewissen Grad relativiert.

Uranos, der Himmelsgott war mit Ge, der Erde, in einem ständigen Zeugungsprozess verbunden, weil er die Geburt seiner Kinder, die ihn entmachten könnten, verhindern wollte, Die gequälte Ge gab schließlich dem schon geborenen Sohn Kronos ein sichelförmiges Messer, womit dieser seinen Vater kastrierte. Kronos seinerseits lebte in der gleichen Angst wie sein Vater. Um der Gefahr zuvor zu kommen, seinerseits von seinen Nachkommen abgesetzt zu werden, verschlang er diese sofort nach der Geburt. Nur Zeus, der jüngste, entging dem Schicksal, weil seine Mutter Rhea ihrem Mann statt seiner einen in Windeln gewickelten Stein zu essen gab. Zeus wurde auf der Insel Kreta von Nymphen aufgezogen. Er heiratete Metis, die für Kronos einen Erbrechenstrunk braute, so dass dieser seine Kinder Demeter, Hera, Poseidon, Hades und Hestia wieder hervorwürgen musste. Aber auch Zeus war von den gleichen Ängsten vor Machtverlust erfüllt. Als er das Orakel erhielt, seine schwangere Frau Metis bekäme nach dieser starken Tochter einen Sohn, der mächtiger als er, den Himmel beherrschen würde, verschlang er seine schwangere Frau. So kam Athene, seine Tochter, als Kopfgeburt auf die Welt.

Diese archetypische Thematik, die einmal den Machtkampf zwischen dem Vater und seinen Kindern widerspiegelt, zum anderen aber auch die ödipale Verstrickung zwischen Mutter und Sohn andeutet, führte zu einer heftigen Diskussion, zu der die ganze Gruppe ihre Einfälle und Beobachtungen beitrug. Aber nicht nur der väterliche Wunsch, dominant zu sein und zu bleiben, stand im Mittelpunkt, sondern auch die Frage nach der Rolle der Mutter. Anhand eines Steinmodells der Medusa aus Dydima wurde die verschlingende und lähmende Überlegenheit des Weiblich-Mütterlichen zum Thema.
Die Suche nach der eigenen Heldenhaftigkeit als Synonym für Identität, die Auseinandersetzung mit der Polarität von Abhängigkeit und Autonomie führte mit Hilfe des Mythos in einen neuen dynamischen Gruppenprozess.

Christiane Lutz
Analytische Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche
Stuttgart


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