Hälfte eines Kieselsteins

von Hans Hopf

Acht Jahre war ich therapeutischer Leiter eines psychotherapeutischen Kinderheimes. Dort lebten häufig Jungen wie der neunjährigen Sven, den kaum jemand ertragen konnte, weil er ein Störenfried war: zunächst im Kindergarten, später in der Schule und besonders in der Familie. Sven hatte die folgenden Probleme:

  • Er konnte sich nicht beherrschen,
  • konnte nichts durchhalten und
  • konnte sich vor allem nicht längere Zeit konzentrieren.
  • Er war in ständiger Unruhe, unaufhörlich getrieben und in Bewegung.

Erst Symbolisierungsfähigkeit macht es einem Kind möglich, Trennungen samt dazugehörenden Unlustgefühlen auszuhalten und Affekte symbolvermittelt abzuführen. Sven hatte kaum Fähigkeiten entwickelt, Trennungen mittels Schaffung von inneren Bildern, Symbolen zu bewältigen. Wie sich seine Symbolisierungsfähigkeit in der Einrichtung langsam bildete, wie er zunehmend Trennung anders als nur körpernah symbolisieren konnte, wie er lernte, Affekte in sich zu halten, zeigte mir ein kleines Erlebnis mit dem Jungen. Er kam in mein Zimmer, weil er mir etwas schenken wollte. Es war die Hälfte eines Steines. Er hatte einen Kieselstein so auseinander geschlagen, dass er in der Mitte zerbrochen war. Eine Hälfte behielt er und die andere Hälfte bekam ich. Der Stein war deutlich getrennt. Trotzdem war sich Sven sicher, dass ein Teil bei ihm und der andere bei mir blieb. Trennung war für ihn nicht mehr unmittelbar mit dem Verschwinden des geliebten Menschen verknüpft. Er konnte sich mittlerweile in der Phantasie vorstellen, dass es den anderen noch gab, auch wenn er aus dem Blickfeld verschwunden war. Unsere Begegnung war auch szenische Darstellung einer unbewussten Kommunikation.

Ein Kollege* hat mich daran erinnert, dass der Junge damit genau den Vorgang wiederholte, aus welchem der Begriff „Symbol" hervorgegangen ist. Symbol ist aus dem griechischen Wort „symballein" entstanden, was zusammenfügen, zusammenwerfen bedeutet. Unter griechischen Gastfreunden wurde beim Abschied ein Gefäß oder ein Würfel zerbrochen und jeder bekam ein Stück zum Zwecke des späteren Wiedererkennens. Da Sven ganz sicherlich keine Kenntnis dieser Geschichte besaß, kann man seine Aktion auch als transkulturelles Symbolhandeln und Ausdruck eines kollektiven Unbewussten im Sinne von C.G. Jung betrachten.

* Mitteilung von Dr. phil. Eckard Daser +, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin.

Dr. rer.biol.hum. Hans Hopf
Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
Mundelsheim


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