Der Hängesessel

von Marion Wurdak-Svenson

In der Einrichtung meines Behandlungsraumes für Kinder bewegte mich die Frage, wie ich es Kindern erleichtern könnte, in einen entspannten Zustand zu kommen. Eine Art träumerische Hinwendung zum eigenen Inneren sollte unterstützt und freies Assoziieren angeregt werden könnte. Ich erinnerte mich an mein eigenes Gefühl, als ich zum ersten Mal in einem Hängesessel in einer Berliner Hinterhofausstellung für Hängemöbel Platz nahm. Völlig unerwartet wurde ich von einem tiefen und beruhigenden Empfinden von Gehalten-Sein begrüßt, ein sanftes Wiegen und Nachfedern ging von diesem „Objekt“ aus, das auf einmal tiefe Schichten in mir zur Resonanz brachte, die machtvolle regressive Bedürfnisse nach mütterlichem Gehalten-Werden in mir aufsteigen ließen, gleichzeitig auch Kontakt zu Enttäuschung, Schmerz und Wut – dieser seltsamen, aber so intensiven Gefühlsmischung – möglich machte. Dieses „mütterliche Stuhlobjekt“ nahm mich in sich auf, ließ mich fühlen, konnte mich mit diesen Gefühlen halten, sodass auch ich sie aushalten konnte und ich spürte Trost und Entspannung. Diese Erfahrung habe ich nie vergessen und Jahre später gab es diesen Stuhl bei mir zuhause. Er begleitete mich in meinen Prozessen und wurde so etwas wie eine „gute körperlich haltende und seelisch containing bietende Mutterfigur“.
Als ich dann vor einer Weile meinen Behandlungsraum für Kinder neu einrichtete, war die Zeit reif, dieses Objekt, das mich selbst lange begleitet hatte, meinen jungen Patienten anzubieten.
Es ist spannend für mich zu beobachten, welche Facetten von Erleben durch diesen Hängestuhl bei den Kindern und Jugendlichen ausgelöst werden, welche Projektionen spürbar werden – d.h. wie dieses Objekt beseelt wird auf eine Art und Weise, die mir helfen kann, mehr über die Seelennot und die innere Objektwelt des jeweiligen Kindes zu erfahren.
In der Übertragung aktivierte Anlehnungsbedürfnisse dürfen im Hängestuhl erlebbarer gemacht werden – der therapeutische Raum und die darin enthaltenen Objekte als Erweiterung der Therapeutin erlebt werden. Ebenso wie er auch Rückzugs- und Abgrenzungsmöglichkeit bietet, wenn die Beziehung zu mir zu nah werden könnte, der Kontakt unerträglich wird, weil damit ein Fühlen von bislang Unaushaltbarem verbunden wäre. Der Stuhl kann stehen für Rettungs- und Rückzugsort, haltende Präsenz, aber auch mit der allem innewohnenden Ambivalenz negativ erlebte Projektionen zulassen: Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Umfangen und Gefangen sein, klein und hilflos und bedürftig. Der haltgebende Rückzugsort kann auch zum einengenden Gefängnis werden – der regressive Sog die notwendige und gesunde Ablösung und Individuation schwer fallen lassen.
Hierzu Ausschnitte aus einer Behandlung eines damals 7.7 Jahre alten Jungen, der nach früher Trennung der Kindseltern einen scheinbar unlösbaren Loyalitätskonflikt zu bewältigen hatte und gleichzeitig – bei der emotional sehr bedürftigen Mutter lebend – als stabilisierendes Selbstobjekt der Mutter deren Nähewünsche erfüllte und als Depressionsabwehr fungierte. Seit früher Kindheit reagierte er mit Infektanfälligkeit und asthmatischen Beschwerden.
Über eine Reihe von Behandlungsstunden (21.-25.) wendet er sich verstärkt dem Stuhl zu, liegt in ihm, „plappert“ vor sich hin, was wie echohaftes Wiederholen von Sätzen klingt, die ihm gesagt wurden „Küsschen Schätzchen, stur lächeln und winken“, er wirkt nicht mit mir in Kontakt, ich erlebe ihn konfus und verängstigt. In der GÜ zeigen sich Gefühle von Unwirklichkeit, Unverbundenheit und fast schon kalter Angst. Irgendwann möchte er eine Decke, baut sie um sich herum und verschwindet dahinter. Die Außenwelt ist weit draußen – er ist weit drinnen, im Erleben im Mutterbauch, in der Regression? Die Decke ein Schutzschild gegen die verwirrenden Signale und Anforderungen von Mama, Papa, Oma und all den anderen, die wichtig sind. Viele Minuten ist Stille, ich höre nichts von ihm, bin in meinen Gedanken, in der Gegenübertragung. Plötzlich ruft er „ich brauche Luft!“ und befreit sich aus seiner Höhle, klettert wieder heraus und kommt in Kontakt mit mir. Der Expansions- und Befreiungsimpuls hat einen Raum geschaffen, in dem nun die Angst gehen kann, Spiel und Kontakt ist wieder möglich und er spielt mit mir den Rest der Stunde Halli Galli.
In den folgenden Stunden darauf setzt er sich weiter mit dem Stuhl auseinander, es kommen mehr aggressive Impulse an die Oberfläche, der Stuhl lässt sich nicht wie gewollt kontrollieren, löst Ärger und Wut aus, aber auch zärtliche Gefühle. Am Ende der 25. Stunde küsst er den Stuhl zum Abschied in der Stunde. Danach gibt es in der Behandlung eine Phase, in der mein kleiner Patient zunehmend seine Mutterübertragung auf mich in unsere Beziehung einbringt und der Hängestuhl, der hier sicherlich Schritte im Vorfeld unterstützt hatte, gerät mehr in den Hintergrund.

Marion Wurdak-Svenson
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Biberach


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