Die magische Platine *)

von Hans Georg Lehle

Es gehört wohl kaum zur Grundausstattung unserer Praxen im Sinne dieser Projektidee und doch kommt man in der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen um dieses schier unverzichtbar gewordene, oft geradezu magisch besetzte Stück Hightech nicht herum. Sie bringen es einfach mit. Dieser „Zauberstab“ der Babyphon-Generation birgt die nahezu unbegrenzte Möglichkeit in sich, jederzeit und überall „Verbindung“ aufzunehmen und, gleichsam als weltumspannende, elektronische Nabelschnur, per flatrate, ohne Unterbrechung zu halten. Das Handy als Illusion überwundener Trennung, ewiger Verbundenheit und omnipotenter Kontrolle ist verlockend, - v. a. für Kinder und Jugendliche, wie sie häufig in unseren Praxen auftauchen: mit unsicheren Bindungserfahrungen und besonderen Schwierigkeiten, Getrenntheit und Begrenzung zu ertragen, mit sich alleine zu sein und auf sich selbst zu vertrauen.

„Meine Pflegeeltern haben mir mein Handy weggenommen, damit ich mich nicht mehr mit meinem Freund treffen kann“, begrüßt mich ein 14-jährige Patientin empört, während sie mit einem funkelnden Lächeln eines umklammert: „Das hier ist von meinem neuen Freund. Er ist 17. Ich lösch gerade die Fotos von seiner Ex! - Ich muss noch ganz kurz auf seine Sms antworten und dann gleich mal den Akku aufladen! Wo gibt’s denn hier ’ne Steckdose?“
Ich fühle mich im ersten Moment zugleich ausgenutzt und ausgegrenzt, wie „abgehängt“, als wäre unvermittelt der Hörer aufgelegt worden: „Falsch verbunden!“ Das frühreif erscheinende Mädchen osteuropäischer Herkunft wurde früh von seiner Mutter getrennt. Diese starb vor etwa einem Jahr unter tragischen Umständen. Vor diesem Hintergrund ist diese Eingangsszene einer Jugendlichentherapiesitzung als unbewusste Inszenierung und als ein Gesprächsangebot zu verstehen: sie ist es, die sich von ihrer Mutter erneut „abgehängt“ und „ausgegrenzt“ fühlt und Beziehungen zu Gleichaltrigen destruktiv nach dem immer gleichen Muster gestaltet: Kontakt knüpfen, halten, kontrollieren, auflegen - „falsch verbunden!“ Der „Akku“ bleibt leer, und genau so fühlt sie sich auch. Ihr Versuch, die Fotos von „der Ex“ zu löschen, bedeutet u. a. die Abwehr eines inneren Bildes von ihrer Mutter und damit auch die Abwehr von Verlust, von Trauer überhaupt.

Ein 13-jähriger Junge, der sich schon vor der Sitzung über sein MP3-Handy durch laute, abstoßende Rapsongs voll sexualisierter Gewalt angekündigt hatte, schaut mich grimmig an während er sein Handy wie eine Waffe auf mich richtet: „Du Sauhund! Heute mache ich dich so wütend, bis du ausrastest! Oder einen Herzinfarkt kriegst! Und dann filme ich dich!“ Als Folge einer Vergewaltigung im Balkankrieg von seiner Mutter gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben, kam der Junge zu serbischen Eltern nach Deutschland, die ihn glauben ließen, er sei ihr leibliches Kind. Seit er vor kurzem von einem Nachbarn auf der Straße die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hatte, ist der Junge völlig „entgleist“. Er konfrontierte mich in jener Szene ebenso jäh mit seiner sprachlosen Wut und Verzweiflung wie er selbst mit seiner Vergangenheit konfrontiert worden war. Ich soll spüren, so der unbewusste Sinn seines Agierens, was er bislang in sich nicht auszuhalten im Stande ist und deshalb ungebrochen an mich weiterleiten muss.

Therapeutische Begegnungen lassen solche unbewältigten, unbewussten Inhalte in einem geschützten Rahmen lebendig werden, um sie darin teil- und damit auch mitteilbar zu machen und um sie im gemeinsamen Erleben miteinander vor dem jeweiligen Lebenshintergrund besser verstehen und bewältigen zu lernen. Warum nicht auch mal übers Handy!
*) Anm.: Das Foto ist selbstverständlich gestellt

Dipl.-Päd. Hans Georg Lehle, M.A.
Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
Ulm


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