Sand

von Hans Georg Lehle

Panta rhei – alles fließt – wohl kaum eine kinderanalytische Praxis mag auf ihn verzichten: Sand. Weich und anschmiegsam rieselt er durch die Finger, regt zum Tagträumen an – auch den Therapeuten! Mein Sand stammt von meinem Lieblingsstrand. Zusammen mit Wasser wird Sand formbar, ein wunderbares Medium für die Ausgestaltung „innerer Objekte“!
Sand und Wasser, Ebbe und Flut, Sinnbild des Werdens und Vergehens. Ihrem Wesen nach überbordend, brauchen sie, besonders im Therapieraum, ein haltendes Gefäß. Jede Kindertherapeutin, jeder Kindertherapeut weiß, wie sehr ein begrenzender Rahmen dazu einlädt, ihn zu überschreiten; wie sehr er aber auch – vom Therapeuten wohl behütet – Halt und Sicherheit bietet.
Der Sandkasten im kindertherapeutischen Behandlungsraum ist eine ideale Bühne, auf der die Innenwelten unserer Kinder zur Darstellung kommen, Konflikte inszeniert, Trennungsverlust, Angst und Wut durchlebt und neue Begegnungserfahrungen möglich werden. Hier werden Schätze entdeckt vergraben, gesucht, wiedergefunden, (Seelen-)Landschaften gestaltet, Bäche wie Tränen verschüttet, Seen aufgestaut, Brücken gebaut, Dämme gebrochen, ins Chaos gerührt und wieder Neues geschaffen. Auf diesem Terrain wird gekämpft und geraubt, triumphiert, gemordet und gelitten, beschenkt und geliebt. Den Sand in meiner Praxis möchte ich nicht missen.

Ein drakonischer Baumeister des Nein
Stunde um Stunde baut vor Jahren ein 8-jähriger Junge, dessen Eltern schon lange Zeit getrennt lebten, einen mächtigen Damm quer durch den Sandkasten und trennt ihn so in zwei gleichgroße Hälften, zwei Lebenswelten. Es wird niemanden überraschen, dass der Akteur und Protagonist dieses Stückes sich vorwiegend in Grenzbereichen aufhält, Verbindungen sucht, Durchgänge gräbt, Übergange schafft und schließlich in steter Wiederholung den trennenden Damm mitsamt seinen Durchgängen in lustvoller Aggression platt macht.
Der Junge war u. a. wegen seiner Überangepasstheit einerseits und seiner Wutausbrüche in Verbindung mit einer wachsenden Verweigerungshaltung andererseits in meiner Praxis vorgestellt worden.
Der Bezug zu den real erlebten, getrennten elterlichen Lebenswelten des Jungen und zu seiner tiefen Sehnsucht, deren Trennung wieder aufzulösen, aber auch die Wut darüber, dies eben nicht zu vermögen, liegt nahe und konnte, gleichsam nebenher, mit dem bedächtig schaffenden Jungen besprochen werden.
Das Geschehen im Sand imponiert darüber hinaus als ein Abbild und Ausdruck des zunächst auch innerhalb der Therapie vorherrschenden Beziehungsmodus des Jungen, der sich im emotionalen Kontakt zu mir hinter einen schützenden Wall zurückzieht und immer wieder distanzlos übergriffig hindurchbricht.
Die intrapsychische Thematik brechender innerer „Dämme“, emotionaler Durchbrüche, Allmachtsfantasien, dahinter stehender Kleinheitsgefühle und damit einhergehender unbewusster Strafbedürfnisse und Ängste konnten anhand des erlebten Beziehungsgeschehens im Sand „versprachlicht“ und dadurch als neue (Selbst-) Erfahrung mentalisiert werden. Trennung ist, im Sinne einer gelungenen Ablösung, ja auch notwendige Bedingung für Autonomie und Individuation, und, als verinnerlichtes Nein, Voraussetzung für das Denken selbst.


Dipl.-Päd. Hans Georg Lehle, M.A.
Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
Ulm


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