Zu meiner Arbeit mit Kindern gehören Kisten

von Monika Knauf

Die „Kiste“ ist eigentlich ein Schuhkarton, den entweder ich zur Verfügung stelle oder den das Kind mitbringt, er bleibt wie er ist oder wird mit Papier beklebt – außen oder innen, von den Eltern, vom Kind oder von mir, manchmal auch von zweien gemeinsam. Die „Kiste“ ist ein persönlicher fester Aufbewahrungsort für „Sachen“.

Die Kiste jedes Kindes bekommt einen Platz bei den anderen im Regal. Mein Therapieraum liegt unterm Dach in einem gewöhnlichen Haus. Das Haus steht in einer kleinen Stadt, die Stadt befindet sich auf der Erde, die Erde zieht ihre Kreise im Weltall, und ob selbst die auseinanderstrebenden und zusammenstürzenden Bewegungen des Alls noch „umfangen“ sind - auf diese Frage finden bereits Kinder sehr verschiedene Antworten.

Die hier gezeigte Kiste ist insofern ungewöhnlich, als ich sie für eine Jugendliche bereit stellte, die sie nie gesehen hat. Denn sie wollte eine eigene Kiste mitbringen, was sie nie tat. Diese Kiste blieb also im Eckschrank meiner kleinen Küche, wo sie – eigentlich sinnloserweise - immer noch steht. Denn das junge Mädchen, es hat übrigens die Behandlung abgebrochen, ist inzwischen eine junge Frau, die – sofern sie es wollte – die Arbeit woanders fortsetzen müsste.

Während der Behandlung schrieb ich einmal nach der Stunde Folgendes auf – ich glaube, es spiegelt wieder, dass das, was das Mädchen erfahren hatte, so schlimm war, dass es keinen richtigen Platz in ihrem Kopf finden konnte.


Missbraucht

In Wahrheit ist die Wahrheit
vielleicht nichts Gutes.

Sie beschädigt mich,
verletzt mich,
spricht mich (oder andere)
schuldig.

Die Wahrheit irritiert mich,
es ist so,
als würde sie mich in ein
unerträgliches Zwielicht
stellen.

Mir geht die Wahrheit
manchmal verloren,
ich weiß dann gar nicht mehr,
was die Wahrheit ist.


Gewiss war das, was ich damals auf ein Blatt Papier schrieb, ein weiterer Versuch, eine Kiste bereit zu stellen. Worte sind ja auch „Kisten“ – Behälter subjektiver Wahrheiten.

Vielleicht ist das, was wir gemeinhin unter „Realität“ verstehen, eine Kiste, die viele Menschen teilen können. Darin darf Gültigkeit beanspruchen, was operationalisierbar ist oder mehrheitsfähig oder auch nicht selbstwidersprüchlich.

Aber es gibt - daneben - ganz andere Kisten des Menschseins. Es gibt die Erfahrung, den gemeinsamen Nenner zu verlieren. Nicht ins Schema zu passen. Die nächstgrößere Einheit, die Nachdenken erlaubt, nicht finden zu können. Sinnlos zu sein. Irgendwohin zu diffundieren. Sich sicherheitshalber tot zu stellen.

In diesem Licht besehen, ist Psychoanalyse das aufrichtige, begrenzte, mal heitere, mal traurige Bemühen, „dem anderen Anderen“ Raum zu geben, vielleicht auch Raum zu bewahren.


Monika Knauf
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Rottenburg a.N
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