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"Wir
sind viele"
von Jutta Kahl-Popp
Das Telefon klingelt in meiner Telefonsprechzeit.
Nachdem ich mich mit meinem Namen gemeldet habe, spricht eine dünne,
hohe, weibliche Stimme: „Guten Tag. Wir leben in einer Wohngemeinschaft.
Wir brauchen Therapie“. Ich denke als erstes, eine Bewohnerin aus
einer der vom Jugendamt oder sozialpsychiatrisch betreuten Wohngemeinschaften,
ruft für mehrere Bewohnerinnen an, auf der Suche nach Therapieplätzen.
Ich sage: „Mögen Sie mir mitteilen, von wem Sie meine Telefonnummer
erhalten haben?“. Die Stimme antwortet: „Unsere Betreuerin
hat sie mir gegeben“. Ich sage: „Verstehe ich Sie richtig,
daß Sie in einer betreuten Wohngemeinschaft leben und Sie und andere
Mitbewohner Therapie suchen?“. Die Stimme lächelt hörbar
und antwortet: „Nein. Wir leben allein. Eine Betreuerin kommt regelmäßig
von außen. Wir sind viele.“ Spontan denke ich an „multiple
Persönlichkeitsstörung“. Ich werde neugierig.
Dann informiere ich die Stimme über die Altersbegrenzung der Approbation
einer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Für die Möglichkeit,
bei mir Therapie zu erhalten, sei deshalb ihr Alter bedeutsam. Die Stimme
sagt: „Einige von uns sind schon sehr alt, andere sind sehr jung.
Der Körper von uns ist 25 Jahre alt.“ Nun informiere ich sie,
daß aus Gründen meiner altersbegrenzten Approbation eine Therapie
bei mir nicht möglich sei. Die Stimme sagt enttäuscht: „Das
ist sehr schade. Wir wären so gerne zu Ihnen gekommen. Wir haben
Sie deshalb gewählt, damit besonders die Kleinen von uns gut aufgehoben
sind“. Auch ich bedauerte, daß ich „wir-sind-viele“
nicht näher kennenlernen konnte.
Dr.phil.Dipl.Päd. Jutta Kahl-Popp
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Kiel
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